Zusammenhalt statt Spaltung  7. Dezember 2022

Begegnungstagung Kirche und Gewerkschaft

Ist die Lage so ernst, dass sich die evangelische und die katholische Kirche mit den Gewerkschaften im Landkreis Esslingen für eine Tagung zusammen tun? Ja, das ist sie, stellte der erste Redner, Prof. Franz Segbers gleich zu Beginn fest. Die keb im Landkreis Esslingen hatte zusammen mit dem Evang. Bildungswerk, dem DGB- Nordwürttemberg und der GEW zum seltenen Format einer „Begegnungstagung“ eingeladen.

Die zentrale Frage war: „Was spaltet die Gesellschaft?“ Die Palette an möglichen Antworten wird täglich breiter: Klima- und Energiekrise oder Krieg und Inflation, soziale Ungleichheit oder autoritärer Populismus? Während im Tagungshaus in Bad Ditzenbach auf der Wiese nebenan friedlich eine Herde Rinder graste und das alles weit weg zu sein schien, wurde drinnen Tacheles geredet.

Franz Segbers, von der Universität Marburg, Theologe und Sozialwissenschaftler, stellte die soziale Spaltung anhand der ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung dar. Segbers warnte sein Publikum, die „soziale Spaltung eskaliert“ und forderte: „Wer über Armut redet, darf über Reichtum nicht schweigen“. Die Gefahr sei groß, dass die soziale Frage von rechten Bewegungen okkupiert werde. Anhand anschaulicher Statistiken zeigte er, wie Armut in Deutschland aussieht. Sie ist multidimensional zu begreifen, so Segbers. Im Kern geht es um die Einkommenshöhe, aber Lebenslagen, Vermögen, Wohnen und Erwerbstätigkeit sind weitere Faktoren. Offiziell wird in Deutschland als Armut definiert, was bis zu 60% des mittleren Einkommens umfasst. Konkret handelt es sich beim Einpersonenhaushalt um ein Einkommen von rund 1.100 Euro. Von Armut bedroht sind über ein Drittel der Menschen hierzulande. Mehr als einem Drittel in Deutschland drohte schon 2020 die Zahlungsunfähigkeit, also lange vor der derzeitigen Inflation.

Trotz einer offiziellen Definition gibt es für Baden-Württemberg seit 2015 keinen Armutsbericht mehr. Ein Umstand den der Referent beklagte. Außerdem stellte der Wissenschaftler fest, dass die Armutsquote trotz der seit 2005 abnehmenden Erwerbslosigkeit stetig steigt. Mehr als jeder vierte Beschäftigte sei arm trotz Arbeit. In Amerika nennt sich dieses Phänomen „working poor“. In Deutschland wird es als ‚Niedriglohnsektor‘ verbal geschönt. Der Referent kritisierte die „prekäre Vollarbeitsgesellschaft“, in der jeder irgendwie beschäftigt sei, aber nicht in Würde leben könne. Menschen seien arm trotz oder sogar durch Arbeit.

Wer in Deutschland von Armut spricht, muss auch vom Reichtum reden“, mahnten die beiden großen Kirchen in ihrem „Sozialwort“ schon im Jahre 1997. Damals sind sie im Grunde schon weiter gewesen als die Politik heute: Es reicht nicht, auf Armut nur mildtätig zu reagieren, sondern man müsse auch die strukturelle, politische Verteilungsfrage stellen. Sein Credo: „Solidarität in einer modernen Gesellschaft besteht darin, den Sozialstaat zu modernisieren, damit er gerecht wird.“

Wahrnehmen, Beurteilen und Handeln. Nach diesem Dreischritt war auch die diesjährige Begegnungstagung aufgebaut. So folgte dem Vortrag von Prof. Segbers Sylvia Erben, Doktorandin am Promotionskolleg „Rechtspopulistische Sozialpolitik und Exkludierende Solidarität“ in Tübingen. Unter dem Titel „Unsere Antwort heißt Solidarität“ fächerte sie auf, wie unterschiedlich der Begriff „Solidarität“ verwendet wird. In 33 „qualitativen Interviews“ hat sie dazu Bildungsreferentinnen und -referenten in der außerschulischen Erwachsenenbildung befragt.

Interessant ist, welche Unterschiede sich dabei im Vergleich zwischen gewerkschaftlichen, kirchlichen und freien Bildungsträgern ergeben haben. „Politische Bildung“ werde teils eher als „Feuerwehreinsatz“ verstanden, der sich gegen Abwertungsideologien richte. Einen festen Begriff von „Solidarität“ gibt es auch hier nicht. Entweder wird sie als „wechselseitiges füreinander Eintreten von Individuen“, verstanden, als moralisch bindende Verpflichtung oder nur als einvernehmliche Verfolgung gemeinsamer Ziele. Es gibt die ganz billige „Solidarität unter „Gleichen“, die sich gegenüber Anderen abgrenzt, und die „universelle Solidarität“.

Die pflicht- und interessensgebundene Solidarität drückt sich z. B. über das Zahlen von Steuern aus, die politische Solidarität stellt dagegen den Status Quo der politischen Machtverhältnisse in Frage.

An die Kritik ihres Vorredners anknüpfend, empfahl Sylvia Erben den Veranstaltern der Tagung, dem Selbstverständnis von Bildungsarbeit müsse eine universelle Solidarität zu Grunde liegen und Bildungsziel sein. Gleichzeitig gilt es, der „Wahrnehmung von Kirche und Gewerkschaft als entpolitisiertem Raum“ zu begegnen. In der Kirche ist beispielsweise die Nächstenliebe als christliche universelle Solidarität zu verstehen. Dabei dürfe es nicht nur um die Arbeitsfähigkeit der eigenen Organisation gehen, also dass der Betriebsfrieden gewahrt werde.

Zur Tradition des 2022 auf Einladung der keb Esslingen tagenden, jedoch seit mehr als zwanzig Jahren in wechselnder Federführung tagenden Esslinger „Thinktanks“ von Kirchen und Gewerkschaften gehört eine Beschau von Beispielen des „Best-Practise“. Dazu gehörte die Präsentation des investigativen Journalisten Lucius Teidelbaum und seine verdeckten Ermittlungen in der Pseudo-Gewerkschaft „Zentrum“, die in Baden-Württemberg am rechten Rand Arbeitnehmer*innen für rechtsextreme Ideen rekrutiert und die Darstellung des „Bündnisses Kirche für Demokratie und Menschenrechte in Baden-Württemberg“ durch Albrecht Knoch.

Wie sehr persönliche Courage ganz konkret die kommunale Lebenswelt zum Besseren verändern kann, bewies am Ende Gabi Merkler, die als Reaktion auf die Umtriebe der neonazistischen „Autonomen Nationalisten Göppingen“ den Verein „Kreis Göppingen Nazifrei“ gegründet hat. Für Demokratie, Aufklärung und Bildung, so zeigte Merkler, darf man keine Angst vor körperlichen Angriffen, einer rechtsextremen AfD haben. Dann entsteht irgendwann, wie in Göppingen ein breites Bündnis von Parteien, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden gegen rechts.

Dr. Emanuel Gebauer

Autorisiertes Gruppenbild der Teilnehmenden und Mitwirkenden aus Kirchen und Gewerkschaften

Prof. Franz Segbers, Evang. und kath. Theologe, Sozialwissenschaftler

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